DER ÄLTERSTENRAT

Eragon gab sich einen Ruck, wälzte sich zur Bettkante herum und ließ den Blick durch den vom trüben Lichtschein einer abgedunkelten Laterne erhellten Raum schweifen. Er setzte sich auf und beobachtete die schlafende Saphira. Ihre muskulösen Flanken hoben und senkten sich, während der gewaltige Blasebalg ihrer Lunge Luft durch die geschuppten Nasenlöcher aufsog und wieder ausstieß. Er dachte an das lodernde Inferno, das sie kraft ihres Willens entfachen konnte. Es war ein beeindruckender Anblick, wenn Flammen, die heiß genug waren, um Metall zum Schmelzen zu bringen, aus ihren Nüstern schossen, ohne sie selbst zu verletzen. Seit sie während des Kampfes gegen Durza zum ersten Mal Feuer gespien hatte, als sie sich von Tronjheims Spitze auf die Krieger herabstürzte, platzte Saphira förmlich vor Stolz auf diese neu erwachte Fähigkeit. Wo immer sie ging und stand, stieß sie kleine Flämmchen aus und versäumte keine Gelegenheit, irgendetwas in Brand zu setzen.
Nachdem Isidar Mithrim zerstört war, hatten Eragon und Saphira nicht im darüber liegenden Drachenhort bleiben können. Die Zwerge hatten ihnen in einer alten, unterirdischen Wachstube Unterkunft gewährt. Der Raum war groß, wenn auch mit niedriger Decke und düsterem Gemäuer.
Tiefer Schmerz erfasste Eragon, als ihn die Erinnerung an die Ereignisse des Vortags einholte. Tränen traten ihm in die Augen, quollen über, und er fing eine in der Hand auf. Sie hatten nichts von Arya gehört, bis die Elfe am späten Abend erschöpft und mit wunden Füßen wieder aus dem Tunnel geklettert war. Trotz aller Anstrengungen und aller aufgebotenen Magie waren ihr die Urgals entkommen. »Das hier habe ich gefunden«, sagte sie und zeigte ihm ein purpurnes Gewand von einem der Zwillinge, zerrissen und blutbefleckt, sowie Murtaghs Wams und seine beiden Panzerhandschuhe. »Die Sachen lagen am Rand eines schwarzen Abgrunds, zu dessen Grund kein Tunnel hinabreicht. Die Urgals müssen ihnen Rüstung und Waffen abgenommen und sie in die Tiefe gestoßen haben. Ich habe versucht, Murtagh und die Zwillinge mit der Traumsicht zu finden, aber nur die Finsternis des Abgrunds gesehen.« Ihr Blick traf Eragons Augen. »Es tut mir Leid. Sie sind tot.«
Nun, allein mit sich selbst, trauerte Eragon um Murtagh. Es war ein entsetzliches, schleichendes Gefühl von Verlust und Grauen, das noch durch den Umstand verschlimmert wurde, dass ihm derartige Empfindungen in den vergangenen Monaten zunehmend vertraut geworden waren.
Während er die Träne in seiner Hand betrachtete - eine kleine, glitzernde Kuppel -, beschloss er, selbst mithilfe der Traumsicht nach den drei Vermissten zu suchen. Er wusste, dass es ein vergebliches, aus reiner Verzweiflung geborenes Unterfangen war, doch er musste es versuchen, um sich davon zu überzeugen, dass Murtagh tatsächlich tot war. Dabei war er sich unsicher, ob er wirklich erleben wollte, was Arya nicht geschafft hatte, ob es ihm tatsächlich besser gehen würde, falls er einen Blick auf Murtaghs geschundenen Leichnam am Fuß einer Felsklippe tief unter Farthen Dûr erhaschen konnte.
Dann flüsterte er: »Draumr kópa.« Dunkelheit umschloss die Träne und verwandelte sie in einen kleinen dunklen Punkt auf seiner silbrigen Handfläche. Bewegungen flimmerten hindurch, wie das Flattern eines Vogels, der an einem umwölkten Mond vorbeifliegt... dann nichts mehr.
Eine weitere Träne landete neben der ersten.
Eragon atmete durch, lehnte sich zurück und ließ sich von tiefer Ruhe durchströmen. Seit er sich von der Verletzung erholt hatte, die Durza ihm beigebracht hatte, war ihm klar geworden - so ernüchternd das auch sein mochte -, dass er diesen nur durch pures Glück besiegt hatte. Sollte ich es jemals mit einem anderen Schatten zu tun bekommen, oder mit den Ra’zac oder mit Galbatorix, muss ich stärker sein, wenn ich siegreich bleiben will. Brom hätte mir noch so viel beibringen können, da bin ich mir ganz sicher. Aber ohne ihn bleibt mir nur eine einzige Möglichkeit: die Elfen.
Saphira atmete tief, dann schlug sie die Augen auf und gähnte ausgiebig. Guten Morgen, Kleiner!
Von wegen guter Morgen! Er schaute auf seine Hände hinab, auf die er sich stützte und die die Matratze zusammendrückten. Es ist schrecklich... Murtagh und Ajihad... Warum haben uns die Wächter in den Tunneln nicht vor den Urgals gewarnt? Es hätte nicht passieren dürfen, dass sie unbemerkt Ajihads Trupp verfolgen konnten... Arya hatte Recht, es ergibt keinen Sinn.
Vielleicht finden wir die Wahrheit nie heraus, sagte Saphira sanft. Sie erhob sich und ihre Flügel streiften die Decke. Du musst etwas essen, Kleiner, und danach müssen wir in Erfahrung bringen, was die Varden vorhaben. Wir dürfen keine Zeit verlieren! Binnen weniger Stunden könnte ein neuer Anführer gewählt sein.
Eragon stimmte ihr zu und dachte daran, wie sie die anderen gestern verlassen hatten: Orik war davongeeilt, um König Hrothgar die traurige Kunde zu überbringen. Jörmundur hatte Ajihads Leichnam an einen Ort gebracht, wo man ihn bis zur Beerdigung aufbahren würde, und Arya hatte allein dagestanden und still die Betriebsamkeit beobachtet.
Er stand auf, gürtete Zar’roc um seine Hüfte und hängte sich den Bogen um, dann bückte er sich, um Schneefeuers Sattel aufzuheben. Da durchfuhr ein schneidender Schmerz seinen Oberkörper und zwang ihn zu Boden, wo er sich gekrümmt an den Rücken griff. Es fühlte sich an, als würde er entzweigesägt. Saphira knurrte, als das Gefühl des Zerrissenwerdens sie erreichte. Sie versuchte, ihn mit ihrem Geist zu beruhigen, konnte seine Schmerzen jedoch nicht lindern. Instinktiv stellte sie den Schwanz auf, drohend, wie zum Angriff.
Es dauerte einige Minuten, bis der Anfall abklang und das letzte Pochen verebbte. Eragon keuchte vor Erschöpfung. Der Schweiß stand ihm im Gesicht, verklebte seine Haare und brannte ihm in den Augen. Er drehte den Arm zurück und tastete vorsichtig nach der Narbe. Sie war heiß und entzündet und schmerzte bei der Berührung. Saphiras Nase berührte sanft seinen Arm. Mein armer Kleiner...
Diesmal war es schlimmer, sagte er und erhob sich taumelnd. Er lehnte sich an Saphira und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht, dann steuerte er vorsichtig auf die Tür zu.
Kannst du dich denn schon wieder auf den Beinen halten?
Wir müssen gehen. Als Drache und Reiter sind wir verpflichtet, unsere Meinung zu dem neuen Anführer der Varden in die Waagschale zu werfen und damit möglicherweise sogar die Wahl zu beeinflussen. Ich würde die Macht unserer Position nicht unterschätzen; wir besitzen nun große Autorität bei den Varden. Wenigstens sind die Zwillinge nicht da, um das Amt an sich zu reißen. Das ist das einzig Gute an der Situation.
Ja, aber Durza soll tausend Jahre in der Hölle schmoren für das, was er dir angetan hat.
Eragon brummte. Bleib einfach immer in meiner Nähe.
Gemeinsam zogen sie durch Tronjheim und suchten nach der nächsten Küche. In den Gängen und Fluren blieben die Leute stehen, verneigten sich und murmelten »Argetlam« oder »Schattentöter«. Selbst Zwerge erwiesen ihm diese Ehre, wenngleich nicht ganz so oft. Eragon nahm bekümmert die ernsten, gequälten Mienen der Menschen und ihre dunkle Kleidung wahr, mit der sie ihre Trauer zum Ausdruck brachten. Viele Frauen waren ganz in Schwarz gekleidet, das Gesicht hinter Spitzenschleiern verborgen.
In der Küche nahm sich Eragon einen Steinteller voller Speisen mit an einen niedrigen Tisch. Saphira beobachtete ihn aufmerksam, für den Fall, dass er wieder einen Anfall bekäme. Mehrere Leute versuchten, sich ihm zu nähern, doch sie zog jedes Mal drohend die Lefzen hoch und knurrte Furcht erregend, sodass alle prompt auf dem Absatz kehrtmachten. Eragon gab vor, die Störungen nicht zu bemerken, und stocherte in seinem Essen herum. Um nicht ständig an Murtagh zu denken, fragte er Saphira schließlich: Wer, glaubst du, vermag neuer Anführer der Varden zu werden, wo Ajihad und die Zwillinge nun nicht mehr unter uns sind?
Sie zögerte. Möglicherweise du, wenn man Ajihads letzte Worte so interpretiert, dass du die Führung übernehmen sollst. Es dürfte kaum jemanden geben, der etwas dagegen hätte. Allerdings scheint mir das kein weiser Schritt zu sein. Ich glaube, es würde uns nur Ärger bringen.
Stimmt. Außerdem würde Arya es nicht billigen und sie könnte ein gefährlicher Gegner sein. In der alten Sprache können Elfen nicht lügen, in unserer hingegen sehr wohl - sie könnte abstreiten, dass Ajihad jemals diese Worte gesagt hat, falls es ihren Zielen dient. Nein, ich möchte das Amt nicht... Was ist mit Jörmundur?
Ajihad bezeichnete ihn als seine rechte Hand. Leider wissen wir kaum etwas über ihn und die anderen Führer der Varden. Wir sind ja erst seit kurzem hier. Wir müssen uns bei unserem Urteil ausschließlich auf unser Gefühl und unsere Eindrücke verlassen.
Eragon schob seinen Fisch um einen Kloß aus Knollenbrei herum. Vergiss nicht Hrothgar und die Zwergenclans! Sie werden sich bei der Sache nicht still verhalten. Außer Arya haben die Elfen bei der Wahl nichts zu sagen - die Entscheidung wird getroffen, bevor die Elfen überhaupt die Kunde von Ajihads Tod ereilt. Aber die Zwerge kann und darf man nicht ignorieren. Hrothgar steht auf Seiten der Varden, aber falls sich ihm genügend Clans widersetzen, könnte er gezwungen sein, jemanden zu unterstützen, der als Anführer ungeeignet ist.
Und wer könnte das sein?
Jemand, der leicht zu manipulieren ist. Eragon schloss die Augen und lehnte sich zurück. Es könnte jeder in Farthen Dûr sein, wirklich jeder.
Sie dachten eine Weile über die Probleme nach, mit denen sie sich konfrontiert sahen, bis Saphira schließlich sagte: Eragon, jemand ist hier, der mit dir sprechen möchte. Ich kann ihn nicht verjagen.
Hä? Er öffnete die Augen und blinzelte ein paarmal, während sich seine Augen an das Licht gewöhnten. Ein blasser Junge stand an ihrem Tisch. Er starrte Saphira an, als hätte er Angst, gleich von ihr aufgefressen zu werden. »Was gibt’s denn?«, fragte Eragon freundlich.
Der Junge schrak zusammen und errötete, dann verneigte er sich rasch. »Ihr werdet gerufen, Argetlam, um vor dem Ältestenrat zu reden.«
»Aus welchen Leuten besteht denn dieser Rat?«
Die Frage verwirrte den Jungen noch mehr. »Der… der Rat ist... sind... Leute, die wir - also die Varden - ernannt haben, um in unserem Namen mit Ajihad zu sprechen. Sie waren seine getreuen Ratgeber, und nun wünschen sie, Euch zu sehen. Es ist eine große Ehre!« Er beendete den Satz mit einem flüchtigen Lächeln.
»Sollst du mich zu ihnen bringen?«
»Ja.«
Saphira sah Eragon fragend an. Schulterzuckend ließ er sein Essen stehen und bedeutete dem Jungen, ihnen den Weg zu zeigen. Unterwegs schaute der Junge mit leuchtenden Augen auf Zar’roc, dann schlug er verlegen die Augen nieder.
»Wie heißt du?«, fragte Eragon.
»Jarsha, Herr.«
»Das ist ein schöner Name. Du bist ein guter Bote. Du kannst stolz auf dich sein.« Jarsha strahlte und eilte weiter.
Sie erreichten eine nach außen gewölbte Steintür, die Jarsha aufschob. Der dahinter liegende Raum war kreisrund und hatte eine himmelblaue, mit Sternenkonstellationen verzierte Dachkuppel. In der Mitte stand ein runder Marmortisch, dessen Platte das Dûrgrimst-Ingietum-Emblem schmückte: ein aufrechter, von zwölf Sternen umringter Hammer. Am Tisch saßen Jörmundur und zwei andere Männer - einer hoch aufgeschossen, der andere stämmig und untersetzt, des Weiteren eine Frau mit zusammengekniffenen Lippen, eng stehenden Augen und üppig bemalten Wangen und eine zweite Frau mit einer imposanten Turmfrisur aus grauen Haaren über einem matronenhaften Gesicht, dessen vermeintliche Gutmütigkeit im krassen Gegensatz zu dem Dolchgriff stand, der zwischen den ausladenden Wölbungen ihres Dekolletees hervorragte.
»Du kannst gehen«, sagte Jörmundur zu Jarsha, der sich rasch verneigte und verschwand.
In dem Bewusstsein, dass man ihn beobachtete, ließ Eragon kurz den Blick über die Runde schweifen, dann setzte er sich auf einen von mehreren freien Stühlen mitten im Saal, sodass die Ratsmitglieder ihre Plätze wechseln mussten, um ihn anschauen zu können. Saphira hockte direkt hinter ihm. Er spürte ihren heißen Atem auf der Schädeldecke.
Jörmundur erhob sich knapp und verneigte sich, dann nahm er wieder Platz. »Danke, dass du gekommen bist, Eragon, obwohl du sicherlich derzeit deine persönlichen Verluste betrauerst. Das da sind Umérth«, er zeigte auf den langen Kerl, »Falberd« - der Stämmige -, »Sabrae und Elessari«, stellte er die beiden Frauen vor.
Eragon nickte kurz und fragte: »Was ist mit den Zwillingen? Waren sie auch Mitglieder dieses Rats?«
Sabrae schüttelte energisch den Kopf und trommelte mit einem langen Fingernagel auf die Tischplatte. »Sie hatten nichts mit uns zu tun. Sie waren Heuchler - schlimmer noch: Blutsauger, die nur ihre eigenen Interessen verfolgten. Sie hatten nicht den Wunsch, den Varden zu dienen. Deshalb hatten sie in diesem Rat nichts verloren.« Eragon konnte ihr Parfüm riechen, obwohl die Frau an der gegenüberliegenden Tischseite saß; es war schwer und ölig, wie eine faulende Blume, und er musste sich bei dem Gedanken das Schmunzeln verkneifen.
»Genug davon. Wir sind nicht zusammengekommen, um über die Zwillinge zu reden«, sagte Jörmundur. »Wir befinden uns in einer Krise, die wir schnell und gewissenhaft beilegen müssen. Wenn wir niemanden zu Ajihads Nachfolger bestimmen, werden es andere tun. Hrothgar hat uns bereits offiziell sein Beileid ausgesprochen. Er war zwar überaus höflich, schmiedet aber mit Sicherheit just in diesem Moment eigene Pläne. Ebenso müssen wir an die Du Vrangr Gata, die Gruppe der Zauberkundigen, denken. Die meisten von ihnen sind den Varden gegenüber loyal, doch selbst in guten Zeiten weiß man nie so genau, was ihnen als Nächstes einfällt. Sie könnten beschließen, zu ihrem eigenen Vorteil unsere Autorität infrage zu stellen. Deshalb brauchen wir deine Hilfe, Eragon: um die Legitimität zu erhalten, die Ajihads Nachfolger benötigen wird.«
Falberd stemmte die fleischigen Hände auf die Tischplatte, um sich zu erheben. »Wir fünf haben uns bereits auf jemanden geeinigt. Wir sind uns absolut sicher, dass es die richtige Person ist. Aber«, er reckte einen dicken Finger, »bevor wir dir verraten, um wen es sich handelt, musst du uns dein Ehrenwort geben, dass nichts, was in dieser Halle besprochen wird, nach außen dringt, ganz gleich ob du unsere Meinung teilst oder nicht.«
Was soll das?, fragte Eragon Saphira.
Ich weiß nicht, erwiderte sie schnaubend. Es könnte eine Falle sein... Das Risiko musst du wohl eingehen. Aber vergiss nicht: Mich haben sie nicht zum Stillschweigen verpflichtet. Wenn nötig, kann ich Arya berichten, was sie gesagt haben. Wie töricht von ihnen, meine Intelligenz so zu unterschätzen!
Angetan von ihrem Vorschlag, sagte Eragon: »Gut, ihr habt mein Wort. Also, wen wollt ihr zum Anführer der Varden bestimmen?«
»Nasuada.« Überrascht senkte Eragon den Blick und überlegte fieberhaft. Er hatte Nasuada wegen ihrer Jugend - sie war nur wenige Jahre älter als er selbst - eigentlich nicht für die Nachfolge in Betracht gezogen. Aber natürlich gab es keinen triftigen Grund, sie auszuschließen. Doch warum wollte der Ältestenrat ausgerechnet sie als Nachfolgerin? Welchen Nutzen hatten sie davon? Er dachte an Broms Ratschlag und versuchte, die Angelegenheit aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten, wohl wissend, dass man eine schnelle Antwort von ihm erwartete.
Nasuada hat Stahl in den Adern, bemerkte Saphira. Sie würde sein wie ihr Vater.
Vielleicht, aber aus welchem Grund wählen sie gerade sie aus?
Um Zeit zu gewinnen, fragte Eragon: »Warum nicht du, Jörmundur? Ajihad bezeichnete dich als seine rechte Hand. Bedeutet das nicht, dass du nach seinem Tode seinen Platz einnimmst?«
Eine Welle des Unbehagens ergriff die Ratsmitglieder. Sabrae richtete sich kerzengerade auf und knetete ihre Finger; Umérth und Falberd wechselten düstere Blicke, während Elessari nur verstohlen in sich hineinlächelte. Der Dolchgriff an ihrer Brust geriet in Bewegung.
»Weil«, sagte Jörmundur, und die Worte schienen mit Bedacht gewählt, »Ajihad damals militärische Angelegenheiten meinte, weiter nichts. Außerdem gehöre ich diesem Rat an, dessen Macht in der Gleichheit seiner Mitglieder besteht. Es wäre dumm und fahrlässig, wollte sich einer von uns über die anderen erheben.« Die Spannung legte sich wieder und Elessari tätschelte wohlwollend Jörmundurs Arm.
Ha!, entfuhr es Saphira. Wahrscheinlich hätte er das Amt nur zu gern übernommen, wenn er sich der Unterstützung der anderen sicher wäre. Sieh nur, wie sie ihn beäugen! Er ist wie ein Wolf in ihrer Mitte.
Ein Wolf in einem Rudel Schakale.
»Ist Nasuada denn erfahren genug?«, wollte Eragon jetzt wissen.
Elessari packte die Tischkante und beugte sich vor. »Ich war schon sieben Jahre hier, als Ajihad sich den Varden anschloss. Ich habe Nasuada aufwachsen sehen, vom niedlichen kleinen Mädchen bis zu der Frau, die sie heute ist. Gelegentlich ein bisschen impulsiv, aber allemal eine gute Anführerin für die Varden. Die Menschen werden sie lieben. Und ich«, sie schlug sich gönnerhaft gegen die Brust, »und meine Freunde sind ja da, um sie durch diese schweren Zeiten zu begleiten. Es wird immer jemand da sein, der ihr den Weg weist. Ihre Unerfahrenheit soll sie nicht daran hindern, ihre rechtmäßige Position einzunehmen.«
Da fiel es Eragon wie Schuppen von den Augen. Sie wollen eine Marionette!
»Ajihads Begräbnis findet in zwei Tagen statt«, ließ sich jetzt Umérth vernehmen. »Wir haben vor, Nasuada gleich anschließend zu unserem neuen Oberhaupt zu ernennen. Wir müssen sie noch fragen, aber sie ist sicher einverstanden. Wir möchten, dass du an der Zeremonie teilnimmst - dann kann sich keiner, nicht einmal Hrothgar, darüber beschweren - und dass du einen Treueschwur auf die Varden leistest. Das wird den Menschen das Vertrauen zurückgeben, das Ajihads Tod ihnen geraubt hat, und verhindern, dass irgendjemand versucht, unseren Zusammenhalt zu stören.«
Ein Gelübde!
Rasch beschwichtigte Saphira Eragons Geist. Wohlgemerkt - sie wollen dich nicht auf Nasuada schwören lassen, sondern auf die Varden.
Ja, und sie wollen diejenigen sein, die Nasuada ernennen, was zeigen würde, dass der Rat mächtiger ist als Nasuada selbst. Sie hätten ja auch Arya oder uns bitten können, die Ernennung vorzunehmen, doch damit würden wir über allen Varden stehen. So aber gewinnen sie die Macht über Nasuada, haben durch den Treueschwur gleichzeitig uns in der Hand und kommen auch noch in den Genuss eines Drachenreiters, der für Nasuada eintritt.
»Was passiert«, fragte er in die Runde, »wenn ich zu dem Schluss gelange, euer Angebot abzulehnen?«
»Angebot?«, fragte Falberd, sichtlich irritiert. »Also - nichts natürlich. Doch es wäre eine grobe Beleidigung für Nasuada, wenn du nicht bei ihrer Ernennung zugegen sein würdest. Was sollte sie wohl davon halten, dass der Held der Schlacht um Farthen Dûr ihr nicht die Ehre erweist? Sie müsste ja annehmen, dass der neue Drachenreiter Groll gegen sie hegt und die Varden für seiner Dienste unwürdig erachtet. Und wer könnte diese Schande ertragen?«
Die Botschaft hätte eindeutiger nicht sein können. Unterm Tisch ballte Eragon die Faust um den Schwertgriff und hätte am liebsten herausgeschrien, dass es unnötig sei, ihn zur Unterstützung der Varden zu zwingen, weil er ihnen ohnehin verpflichtet sei. Nun aber wollte er instinktiv rebellieren, die Fesseln abwerfen, die sie ihm anzulegen versuchten. »Da man so große Stücke auf die Drachenreiter hält, könnte ich mich ja auch entschließen, selbst die Geschicke der Varden zu lenken.«
Nun breitete sich eine frostige Stimmung aus. »Das wäre unklug«, stellte Sabrae fest.
Eragon zerbrach sich den Kopf nach einem Ausweg aus der Zwickmühle. Ohne Ajihad, bemerkte Saphira, könnte es sich als unmöglich erweisen, unabhängig zu bleiben, so wie er es gewünscht hat. Wir dürfen die Varden nicht verärgern, und wenn der Rat nach Nasuadas Ernennung die eigentliche Macht besitzt, dann sollten wir uns dem fügen. Vergiss nicht, ihr Handeln ist bedingt durch ihren Selbsterhaltungstrieb, genau wie unseres.
Aber was werden sie von uns verlangen, wenn sie uns erst einmal willfährig gemacht haben? Werden sie sich an den Vardenpakt mit den Elfen halten und uns zur Ausbildung nach Ellesméra gehen lassen oder haben sie vielleicht schon etwas ganz anderes mit uns vor? Jörmundur scheint ein Ehrenmann zu sein, aber der Rest des Rats - ich weiß nicht recht.
Saphira strich ihm mit dem Unterkiefer über den Kopf. Sag ihnen, wir nehmen an der Zeremonie teil. Ich denke, so weit sollten wir ihnen entgegenkommen. Was den Schwur betrifft: Versuche, dich um eine klare Aussage herumzureden. Vielleicht geschieht ja in den nächsten Tagen noch irgendetwas, das unsere Position ändert... Vielleicht hat Arya eine Idee.
Ohne Vorwarnung nickte Eragon und sagte: »Wie ihr wünscht. Ich werde an Nasuadas Ernennung teilnehmen.«
Jörmundur wirkte erleichtert. »Gut, gut. Dann müssen wir nur noch eine Angelegenheit klären, bevor du gehst: Wir brauchen Nasuadas Einwilligung. Es gibt keinen Grund zu warten, wo wir doch schon alle hier versammelt sind. Ich lasse sofort nach ihr schicken. Und nach Arya auch - wir benötigen die Billigung der Elfen, bevor wir die Entscheidung öffentlich verkünden, aber das sollte zu bewerkstelligen sein. Schließlich kann sich Arya nicht gegen den Rat und gegen dich stellen, Eragon. Sie wird sich unserer Entscheidung fügen.«
»Halt!«, sagte Elessari mit kaltem Glanz in den Augen. »Wir warten immer noch auf die zweite Antwort, Drachenreiter. Wirst du bei der Zeremonie den Treueschwur auf die Varden leisten?«
»Richtig, du musst den Schwur ablegen«, sagte Falberd. »Die Varden wären ihrer Ehre beraubt, wenn sie dir nicht jeden Schutz gewähren könnten.«
Wie nett formuliert!
Es war einen Versuch wert, sagte Saphira. Ich fürchte, du hast jetzt keine andere Wahl mehr.
Sie würden es nicht wagen, uns etwas zu tun, wenn ich mich weigern sollte.
Nein, aber sie könnten uns in große Schwierigkeiten bringen. Ich sage das nicht meinetwegen, sondern dir zuliebe. Es gibt unzählige Gefahren, vor denen ich dich nicht schützen kann, Eragon. Mit Galbatorix als Gegner braucht man Verbündete und darf sich nicht überall Feinde machen. Wir können es uns nicht leisten, uns mit dem Imperium und den Varden anzulegen.
Schließlich sagte er: »Ich werde einen Schwur ablegen.« Am Tisch gab es sichtbare Zeichen der Erleichterung - sogar Umérth seufzte verstohlen. Sie fürchten sich vor uns!, dachte Eragon.
Das sollten sie auch, erklärte Saphira.
Jörmundur rief nach Jarsha und trug dem Jungen auf, Nasuada und Arya zu holen. Als er fort war, verfiel die Runde in ungemütliches Schweigen. Eragon ignorierte die anderen und konzentrierte sich stattdessen darauf, einen Ausweg aus seinem Dilemma zu finden. Doch es wollte ihm nichts einfallen.
Als die Tür wieder aufging, wandten sich alle erwartungsvoll um. Als Erste erschien Nasuada, das Kinn gereckt und mit stolzem Blick. Sie trug ein tiefschwarzes Kleid, dessen Farbe nur von einem Streifen königlichen Purpurs unterbrochen wurde, der von der Schulter bis zur Hüfte verlief. Hinter ihr kamen Arya - ihr Gang war leichtfüßig und geschmeidig wie der einer Katze - und Jarsha, der sichtlich beeindruckt war.
Der Junge wurde weggeschickt, dann bot Jörmundur Nasuada einen Stuhl an. Eragon beeilte sich, dasselbe für Arya zu tun, doch sie ignorierte seine Bemühungen und blieb einige Meter vom Tisch entfernt stehen.
Saphira, berichte ihr alles, was geschehen ist. Ich glaube, die Mitglieder des Rats werden nicht erwähnen, dass sie mich gezwungen haben, den Varden meine Loyalität zu versprechen.
»Arya«, begrüßte Jörmundur sie mit knappem Kopfnicken, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Nasuada. »Nasuada, Tochter von Ajihad, der Ältestenrat möchte dir offiziell sein Beileid aussprechen zu dem traurigen Verlust, den du erlitten hast… und ebenso das Mitgefühl jedes Einzelnen von uns. Wir alle wissen, wie es ist, jemanden auf so grausame Weise an das Imperium zu verlieren.«
»Vielen Dank«, murmelte Nasuada und schlug die mandelförmigen Augen nieder. Als sie Platz nahm, wirkte sie so scheu und zerbrechlich und strahlte eine solche Verletzlichkeit aus, dass Eragon sie am liebsten getröstet hätte. Ihr Auftreten hatte nichts mehr von der selbstbewussten jungen Frau, die ihn und Saphira vor der Schlacht im Drachenhort besucht hatte.
»Obwohl dies für dich eine Zeit der Trauer ist, stehen wir vor einem Problem, das nur du zu lösen vermagst. Dieser Rat kann die Varden nicht anführen. Und nach der Bestattung Ajihads muss jemand seinen Platz einnehmen. Wir möchten dich darum bitten, diese Position zu bekleiden. Als seine Erbin ist es dein Recht - und die Varden erwarten nichts anderes von dir.«
Nasuada verneigte sich mit feuchten Augen. Der Schmerz in ihrer Stimme war offenkundig, als sie sagte: »Ich hätte nie gedacht, dass man mich schon in so jungen Jahren auffordern müsste, den Platz meines Vaters einzunehmen. Aber wenn ihr darauf besteht, ist es meine Pflicht... Ich werde das Amt annehmen.«

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
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